Wirtschaftsfaktor Nahverkehr: Ohne Bus & Bahn funktioniert keine Großstadt

EWG_Dietmar_Duedden_InterviewInterview mit Dr. Dietmar Düdden, Geschäftsführer der Essener Wirtschaftsförderungsgesellschaft zur Bedeutung des Nahverkehrs für den Wirtschaftsstandort Essen.

Herr Dr. Düdden, welche Standortfaktoren sind für Unternehmen bei der Standortwahl entscheidend?

Je nach Branche haben die Unternehmen unterschiedliche Anforderungen an ihren Standort. Für Industrie- und Dienstleistungsunternehmen beispielsweise sind Mobilität und Erreichbarkeit wesentlich für Wettbewerbsfähigkeit und Wachstumschancen, Dienstleistungsunternehmen bauen zusätzlich auf die Nähe zu potenziellen Auftraggebern. Grundsätzlich lassen sich jedoch Standortfaktoren festmachen, die für alle Unternehmen gleichermaßen bei der Wahl des Standortes eine Rolle spielen. Dazu gehört in allererster Linie die Infrastruktur vor Ort wie z.B. die Verkehrsanbindung. Im Zuge der Digitalisierung spielt die Breitbandversorgung eine immer stärkere Rolle. Auch die Verfügbarkeit von Fachkräften und die Nähe zu Wissenschaft und Forschung werden bei der Standortwahl berücksichtigt. Darüber hinaus fließen aber auch Faktoren wie das Kultur- und Bildungsangebot, Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten sowie die Mietpreise mit ein, die für die Anwerbung von Mitarbeitern entscheidend sein können.

Was spricht für den Standort Essen als Wirtschaftsstandort?

Die Stärke des Wirtschaftsstandortes Essen zeigt sich an dem stetigen Wachstum der Wirtschaftsleistung. Die aktuellsten Angaben der Statistischen Ämter der Länder zeigen: Im 10-Jahres-Zeitraum von 2003 bis 2013 nahm in Essen die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft stark zu. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit dem Jahr 2003 um 30,7 % gestiegen und liegt im Jahr 2013 bei rund 25 Milliarden Euro. Im Vergleich der zehn größten Städte Deutschlands ist Essen damit der Standort mit der zweitstärksten wirtschaftlichen Entwicklung. Berlin liegt mit einer Steigerung von 31,8 % knapp vor Essen.

Betrachtet man indes die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes je Erwerbstätigen, behauptet sich Essen souverän und belegt mit einer Steigerung von 23,9 % wie in den Vorjahren den ersten Platz. Mit großem Abstand und einer Steigerung von 16,5 % folgt München. Dafür verantwortlich sind die rund 12.700 kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie die großen Konzerne in Essen – allein 7 der 100 umsatzstärksten Unternehmen Deutschlands haben hier ihren Hauptsitz, darunter drei DAX-Unternehmen. Die kleinen und mittleren Unternehmen profitieren von der Nähe zu den hier ansässigen Konzernen, indem sie das große Auftragsvolumen vor Ort zu nutzen wissen. Das Essen als Wirtschaftsstandort attraktiv ist, zeigen die zahlreichen Unternehmensansiedlungen der jüngsten Zeit. Zu den prominentesten Neuzugängen gehören E.ON und Brenntag, die sich für Essen als neuen Hauptsitz entschieden haben. Sie wissen um die zahlreichen Vorteile, die Essen zu bieten hat. Essens geographische Lage im Herzen des bedeutenden Ballungsraums Metropole Ruhr macht neben vielen weiteren Faktoren die Stärke des Standortes aus. Durch die zentrale Lage Essens erschließt sich den hier ansässigen Unternehmen das gute Kunden-, Absatz- und Arbeitskräftepotenzial der Metropole Ruhr mit ihren rund 5,1 Millionen Einwohnern. Hinzu kommt die gute verkehrliche Anbindung. Als Zentrum eines der größten Ballungsräume Europas ist Essen hervorragend erreichbar. Innerhalb einer Reisezeit von einer Stunde erreichen mehr als 11 Millionen Menschen den Standort mit dem Auto und mehr als 9 Millionen Menschen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ein optimal ausgebautes Autobahn- und Schienennetz und drei Flughäfen im näheren Umkreis sorgen für schnelle Verbindungen innerhalb der Metropole Ruhr und zu anderen nationalen und internationalen Städten und Ballungsräumen. Ob mit der Bahn oder mit dem Auto: Bei freier Fahrt erreicht man innerhalb von 25 Minuten den Düsseldorf Airport. Die am Standort angesiedelten Unternehmen profitieren zudem von der Nähe zu insgesamt sechs Hochschulen, rund 25 Forschungseinrichtungen und zahlreichen Weiterbildungseinrichtungen. Sie können somit auf hochqualifiziertes Personal und aktuelle Forschungsergebnisse zurückgreifen. Die Attraktivität des Standortes wird zudem durch die vielen schulischen Angebote mit internationaler Ausrichtung erhöht. Insbesondere die International School Ruhr, eine im Jahr 2010 gegründete internationale Ganztagsschule mit angeschlossenem Kindergarten, ist ein wichtiger Standortfaktor – vor allem für gefragte Spitzenkräfte aus dem In- und Ausland, die bei der Wahl des Arbeitsplatzes zunehmend eine internationale Ausbildung ihrer Kinder im Blick haben.

An welchen Aspekten muss weiter gearbeitet werden?

Als Wirtschaftsförderung arbeiten wir täglich daran, die wirtschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen für die in Essen ansässigen Unternehmen zu verbessern. So haben wir beispielsweise gemeinsam mit Partnern den Masterplan Industrie für Essen ins Leben gerufen, um das industrielle Wachstum in Essen zu sichern und zu stärken, neue innovative Unternehmen in Essen anzusiedeln und die Attraktivität des Industriestandortes Essen zu steigern. Dazu gehört auch, das Angebot qualitativ hochwertiger Industrie- und Gewerbeflächen zu erhöhen und eine gut ausgebaute und leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur zu gewährleisten. Auch die Breitbandversorgung ist ein Thema. Um als Unternehmen wettbewerbsfähig zu bleiben, sind leistungsfähige Breitband-Netze mit Hochgeschwindigkeits-Internet eine zwingende Voraussetzung, denn sie garantieren hohe Übertragungsraten bei der Informationsbeschaffung, dem Datenaustausch, bei Videokonferenzen oder dem Online-Vertrieb. Deshalb haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, den Breitbandausbau für Unternehmen in Essen zu beschleunigen. Ziel ist es, insbesondere in den Essener Gewerbegebieten und Bürolagen Unternehmen den Zugang zum Hochgeschwindigkeits-Internet mit höheren Datenübertragungsraten von bis zu 100 Gbit/s – das ist bis zu 1000facher VDSL-Speed – zu ermöglichen. Die ersten Essener Gewerbegebiete profitieren bereits vom Ausbau der Glasfaserinfrastruktur. In den kommenden Monaten soll der Glasfaserausbau in zahlreichen weiteren Gewerbegebieten im Essener Stadtgebiet vorangetrieben werden.
Stichwort Mobilität. Das Ruhrgebiet ist von Autobahnen durchzogen, es gibt viele Pendler. Wie stellen sich diese Verkehrsströme aus Ihrer Sicht dar? Wie profitiert Essen davon, wo ist Essen im Nachteil?
Mit rund 325.000 Erwerbstätigen ist Essen der größte Arbeitsplatzstandort im Ruhrgebiet. Rund 145.000 davon kommen tagtäglich als Einpendler in unsere Stadt. Gleichzeitig verlassen uns rund 93.000 Auspendler. Das positive Pendlersaldo von rund 52.000 ist ein klares Indiz für die Attraktivität Essens als Arbeitsort. Es zeigt aber auch, dass ein gewaltiges Potential auf den Straßen und Schienen unterwegs ist. Wenn wir es schaffen würden, von den rund 145.000 Einpendlern nur einen Bruchteil zum Umzug nach Essen zu bewegen, wäre schon viel gewonnen. Mehr Einwohner bedeuten auch mehr Schlüsselzuweisungen des Landes und mehr Steuereinnahmen. Das heißt aber, dass es ein größeres und attraktives Wohnangebot geben muss. Dafür brauchen wir neue Flächen. Eine Verdichtung der vorhandenen Standorte alleine wird dafür nicht ausreichen.

Thema Mobilitätswahl. Erkennen Sie hier einen Trend in der Gesellschaft?

Wenn man sich die Staunachrichten im Ruhrgebiet anhört, scheint das Auto immer noch das Verkehrsmittel Nummer 1 zu sein. Dennoch ist zu erkennen, dass sich immer mehr Menschen bei der Wahl der Mobilität nicht mehr nur auf das Auto beschränken, sondern zunehmend auch andere Verkehrsmittel nutzen. Insbesondere, wenn in Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet ein attraktives und vielseitiges Mobilitätsangebot vorherrscht. Ob mit Bus und Bahn oder mit dem Fahrrad – den Menschen im Ruhrgebiet bieten sich durch das gut ausgebaute Nahverkehrs- und Radwegenetz kostengünstige und ressourcenschonende Alternativen zum Auto. Und: Man spart sich die lästige Parkplatzsuche. Die steigende Beliebtheit von ÖPNV und Fahrrad hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die verschiedenen Verkehrsmittel immer flexibler miteinander kombiniert werden können. Der Wechsel zwischen den Verkehrsmitteln während eines Weges wird immer leichter – sei es durch die Nutzung von Park & Ride oder von Leihfahrrädern, deren Ausleihe beispielsweise für Abokunden der Verkehrsbetriebe schnell und vergünstigt möglich ist. Hinzu kommt, dass bei der Nutzung des ÖPNV die Informationstechnologie, z.B. Online-Informationssysteme und Apps, eine immer größere Rolle spielt, was den Komfortfaktor erheblich erhöht. Natürlich ist die Mobilitätswahl altersabhängig. Eine Studie des Instituts für Mobilitätsforschung besagt, dass sich bei den 18- bis 34-Jährigen seit der Jahrtausendwende eine Trendwende im Mobilitätsverhalten vollzieht. Zwar stagniert in dieser Altersgruppe der Führerscheinbesitz, dafür hat die Nutzung des Autos deutlich abgenommen. Immer weniger junge Erwachsene besitzen überhaupt ein Auto. Stellen Sie sich vor, was auf Essens Straßen los wäre, wenn die mehr als 30.000 Studierenden in Essen alle mit dem Auto zur Uni kämen.

Welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht der Nahverkehr bei der Standortwahl eines Unternehmens?

Ob großer Konzern oder mittelständisches Unternehmen – sie alle messen bei der Standortwahl einem gut ausgebauten Nahverkehrsnetz große Bedeutung zu. Um als Arbeitgeber attraktiv zu sein, ist die Anbindung des Unternehmenssitzes an den öffentlichen Personennahverkehr eine wichtige Komponente. Lassen Sie mich das am Beispiel von Essen verdeutlichen: Die hier ansässigen Unternehmen beschäftigen über 230.000 sozialversicherungspflichtige Mitarbeiter in Essen. Rund 120.000 davon kommen von außerhalb. Hier zahlt sich aus, dass Essen als attraktiver Unternehmens- und Arbeitsstandort nicht nur mit dem Auto, sondern auch über die Schiene bestens zu erreichen ist. Der Essener Hauptbahnhof verzeichnet täglich rund 750 An- und Abfahrten von Fern- und Nahverkehrszügen sowie von S-Bahnen. Vom Hauptbahnhof aus bedienen drei U-Bahnlinien, acht Tramlinien und zahlreiche Buslinien das gesamte Essener Stadtgebiet. Die Beschäftigten, die täglich mit Bus und Bahn unterwegs sind, ob Einpendler oder Einwohner, müssen innerhalb der Stadtgrenzen ihren Arbeitsplatz problemlos erreichen können. Das ist meines Erachtens in Essen gegeben.

Gibt es Branchen oder Unternehmen, die besonders auf den Nahverkehr angewiesen sind?

Grundsätzlich ist Essen ist als starker und attraktiver Wirtschaftsstandort auf einen gut ausgebauten ÖPNV angewiesen. Das gilt branchenübergreifend und unabhängig davon, ob die Unternehmen im Stadtkern oder auf der grünen Wiese angesiedelt sind. Dennoch gibt es in Essen Branchen, die insofern besonders auf den Nahverkehr angewiesen sind, als sie sehr viele Mitarbeiter und noch mehr Kunden auf sich vereinen. In der Medizin- und Gesundheitsbranche arbeiten über 45.000 Mitarbeiter in Essen. Nicht nur die, auch die Patienten brauchen die Möglichkeit, die medizinischen Einrichtungen mit dem Nahverkehr optimal zu erreichen. Und Essen übt eine hohe Anziehungskraft für Patienten aus dem In- und Ausland aus: Allein im Jahr 2014 wurden in den 13 Essener Krankenhäusern rund 215.000 Patienten vollstationär behandelt. Wenn sich Essen als Wissenschaftsstadt profilieren möchte, ist auch in diesem Bereich ein gut ausgebautes Nahverkehrsnetz unverzichtbar. Allein an der Universität Duisburg-Essen studieren rund 42.000 Studierende, von denen der Großteil auf den Nahverkehr angewiesen ist. Ganz zu schweigen von den rund 75.000 Schülern in Essen, von denen viele tagtäglich mit Bus und Bahn zur Schule fahren. Auch die Tourismusbranche profitiert vom Nahverkehr: Über 1,4 Millionen Gästeübernachtungen verzeichneten die Essener Hotels im letzten Jahr. Ohne flächendeckende Bus- und Bahnlinien wären für viele der Touristen unsere zahlreichen auf dem ganzen Stadtgebiet verteilten Sehenswürdigkeiten nur schwerlich erreichbar. Ebenfalls unverzichtbar ist der Nahverkehr für die Messe Essen, die mit ihren rund 50 verschiedenen Messen jährlich rund 1,4 Millionen Besucher in die Messehallen lockt.

Können Sie konkrete Beispiele benennen, wo Unternehmen sich bewusst für den Standort Essen entschieden haben und dabei die Anbindung an den ÖPNV wichtig war?

Die Essener Wirtschaftsförderung hat in den 25 Jahren ihres Bestehens unzählige  ansiedlungswillige Unternehmen bei der Standortsuche unterstützt. Die Verkehrsanbindung und damit auch die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr spielte dabei immer eine Rolle. So war  beispielsweise die Entscheidung der Deutschen Bank, eines der drei bundesweit agierenden, firmeninternen Service-Center in Essen zu etablieren, unter anderem auch davon beeinflusst, wie sich die Nahverkehrsanbindung für die rund 1.000 Mitarbeiter gestaltet. Mit Unterstützung der EWG und der Stadt Essen gelang es, einen geeigneten Standort für das Unternehmen zu finden und damit die Voraussetzung für die Neuansiedlung zu schaffen. Seit 2010 sitzt das Service-Center nun im Gebäude der ehemaligen Bundesbahndirektion am Bismarckplatz – mit einer U-Bahn-Station direkt vor der Haustür.  

Was sind die Top 3 Faktoren für die Zukunft des Essener Wirtschaftsstandorts?

Hierbei gilt es, harte und weiche Standortfaktoren gleichermaßen zu berücksichtigen. Bei den harten Standortfaktoren sind es die zentrale Lage von Essen innerhalb des Ballungsraums Ruhrgebiet, das gute Verkehrsnetz und die Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften. Als weiche Standortfaktoren schätzen Unternehmen beispielsweise das vielfältige Kultur- und Freizeitangebot. Aber auch die Lebensqualität spielt eine große Rolle bei der Standortwahl von Unternehmen. Denn Essen bietet nicht nur ein attraktives Umfeld zum Arbeiten, sondern auch zum Wohnen und Erholen. Hier punktet Essen als Kulturhauptstadt Europas 2010 und als Grüne Hauptstadt Europas 2017.

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Olaf Frei

08.08.2016